FRIEZE FOCUS: Lyrik, Farbe und die Vermessung von Bewegung

von Jennifer Allen
Bild


Was für ein Chaos. Wer im Januar diesen Jahres Natalie Häuslers Einzelausstellung Case Mod in ihrer Berliner Galerie Supportico Lopez besuchte, fand dort nicht vor, was die Webseite der Galerie versprach. Fotos von Häuslers Installation monika/subway (floor piece) (2012) ließen ein Raster klar angeord­neter Kartonplatten in knalligen Acrylfarben erwarten, die den gesamten Boden des Hauptraums bedeckten. Doch stattdessen lagen die Platten wild über den Boden verstreut, verschmutzt mit dreckigen Schuh­abdrücken. Häusler hatte die Platten zwar höchst sorgfältig arrangiert, aber offensichtlich nicht fixiert. Und so verschoben sich die Kartonagen mit jedem Schritt der Eröffnungsgäste und Besucher wieder. Die Platten am Eingang sahen dabei besonders mitge­nommen aus, diejenigen entlang der Wände waren dagegen eher verschont geblieben. monica/subway erschien nur am Anfang als Raster aus fröhlichen Farbtönen – und zeigte am Ende doch viel eher die Spuren der Besucher. Diese ständige sich verstärkende Bewegung gewann schnell eine beunruhigende Dimen­sion. Ein wenig wirkte das Ganze, als ob man der Schneise der Verwüstung folgt, die ein Tornado hinterlässt, oder der Spur von Menschen in Massenpanik. Und doch: Filmt man einen Wirbelsturm in Zeitlupe, so sieht er beinahe aus wie ein Ballett der Objekte. Vielleicht ging es in Häuslers Installation ja genau darum: um das Ausmessen von Bewegung, Geschwindigkeit und Dauer – und zwar in einer Art Action Painting im erweiterten Feld. 

Dieses Feld umfasst nicht nur Malerei und Installation, sondern auch Dichtung. Häusler verschmilzt alle drei Bereiche mit­einander – was es ihr erlaubt, ganz unterschiedliche Wege des Ausstellens, Schreibens, Lesens, Vortragens und Zuhörens einzuschlagen. Die Künstlerin wurde in München geboren und zog 2012 – nach zwei Jahren als DAAD-Stipendiatin in New York – nach Berlin. 2011 schloss sie das Bard College mit einem Master of Fine Arts ab und das Studium an der HdK Braunschweig als Meisterschülerin – beides in Malerei. Im gleichen Jahr gründete sie gemeinsam mit Ed Steck und Brett Price den Lyrik-Verlag AMERICAN BOOKS. Das erste Buch des Verlags – Solicitations, mit Beiträgen von 35 Künstlern und Autoren – erschien im Dezember 2012. Schon 2010 tauchte das erste Gedicht Häuslers in einem ihrer Kunstwerke auf, LOSS – LUST I, und zwar in einer Installation und Performance gleichen Namens, die am Bard College aufgeführt wurde. Die auf Kanzleipapier gedruckten Zeilen des Gedichts wurden von zwei Freunden Häuslers laut vorgelesen und dann in der Installation verstreut. Das teilweise auf Deutsch, größtenteils aber auf Englisch geschriebene Gedicht zitiert einen Brief von Franz Kafka aus dem Jahr 1920, in dem Kafka seine Geliebte Milena Jesenská davon zu überzeugen versucht, dass sie ein klareres Bild voneinander hätten, wenn sie sich, statt sich zu treffen, lieber schrieben. Und Häusler fügt dem ihre eigenen Überlegungen zu Undurchsichtigkeit und Einsicht im Verhältnis zwischen Künstlern, Werken und Zuschauern hinzu: „Einen Arbeitsprozess sichtbar zu machen, macht Dich verwundbar.“ Während ihre Freunde diese Zeilen lesen, verspritzt Häusler Tinte auf die Textilien und die Broschüren der Installation, die alle ein bisschen wie Rorschachtests wirken oder zumindest zensiert aussehen – entweder also nach Interpretation oder nach Unlesbarkeit. Längst erscheinen Häuslers Gedichte nicht mehr nur auf Papier. Sie bedient sich dafür ganz anderer materieller Träger und lotet Handlungen jenseits des Rezitierens aus. For Anne (rising) (2012) – eine Installation im Schaufenster des Berliner Buchladens Motto – enthielt auf zerbrochene Sektgläser gedruckte Auszüge aus ihrem Gedicht BED. Andere Installationen wie A situation of subtle control/inward-outward gaze (2011) und We are getting a little bit too close here (still life) (2012), die letztes Jahr anlässlich der Shortlist-Ausstellung des +6| 2012-Columbus-Förderpreises in der Kunsthalle Ravensburg zu sehen waren, zeigen auf tischähnliche Flächen gedruckte Gedichte. Doch die Worte wirken verzogen, so als schwebten sie im Wasser oder wären im Zerrspiegel einer Jahrmarktsbude gespiegelt. Häusler mag solche Bewegungseffekte – vielleicht als eine textliche Variante von Drip Painting – ebenso wie Paletten, die Farben miteinander verbinden und gleichzeitig voneinander absetzen: Plattenraster, Bildschirmschoner, Wasserfarben, Buntglas. Bei Case Mod hingen acht Bruchstücke von bemaltem Glas in einer Reihe an einer Wand des Ausstellungsraums; ein jedes mit einem Gedicht auf Pauspapier versehen, sowie mit einem schon etwas in die Jahre gekommenen MP3-Player. Man konnte die Gedichte entweder lesen oder über Kopfhörer anhören – zumindest so lange, bis die Batterien alle waren. Und die Ausstellung arbeitet noch mit einer weiteren Zeitmessung: Das Buch WATERCOLOURS (2012) versammelt ein Jahr Email-Korrespondenz zwischen Häusler und ihrem Künstlerkollegen David Horwitz, inklusive Illustrationen. 

Vielleicht möchte Häusler, die im Mai eine sechsmonatige Künstlerresidenz an der Cité des Arts in Paris antritt, mit der Verwendung von Dichtung ja auch der Tatsache ent­gegenwirken, dass Sprache in der bildenden Kunst rein zu Erklärungszwecken eingesetzt wird; denn momentan kranken so viele postkonzeptionelle und research-basierte Werke genau daran. Häuslers Poetik-Version erweiterten Actionpaintings betont letztendlich nicht ihre eigenen Aktionen, sondern die der Zuschauer – sie verweist darauf, wie diese die Kunst „abnutzen“, sei es durch ihre Interpretationen oder durch schiere physische Anwesenheit. What pilgrims trust they shall encounter (Advanced Morandi Effect / Mere Exposure Effect (2012) zeigte im Vorjahr – ebenfalls bei Supportico Lopez – einen Tisch mit dicht aneinander gereihten, randvoll mit Wasser gefüllten Trinkgläsern. Wenn man sich dem Werk näherte, erzitterten die Gläser von den Fußtritten sicht- und hörbar. Trat man ganz dicht heran, dann klapperten sie wie Zähne, ganz so, als flöße ihnen schon die Aussicht auf Annäherung Furcht ein.  

Link zum Artikel:
https://frieze.com/article/natalie-h%C3%A4usler?language=de 

Case Mod, Verschiedene Materialen, Ausstellungsansicht Supportico Lopez, Berlin, 2013 (Courtesy: die Künstlerin and Supportico Lopez, Berlin, Fotografie: Hans-Georg Gaul)